"Alle Menschen wurden erschaffen, eine ständig fortschreitende Kultur voranzutragen."
Stern

Bahá'í  Österreich

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Krise und Fortschritt
von:
DI Kambiz Poostchi

von DI Kambiz Poostchi, erschienen März 2020 im Magazin der österreichischen Hoteliervereinigung “die Lobby”

„Akzeptierte Ideen haben nicht mehr die Wirkkraft, aber wirkungsvolle Ideen sind noch nicht akzeptiert. Das ist das Dilemma unserer Zeit.“

 Stafford Beer

Vom fragmentierten Verdrängungswettbewerb zur gemeinschaftsbildenden Solidarität

Angesichts der aktuellen globalen Ereignisse und des unsäglichen Leids, das so viele Menschen weltweit heimgesucht hat, kann wohl kein waches Herz unberührt bleiben. Eine besorgte Welt hat sich mit einer sich rasch verbreiternden weltumspannenden Gesundheitskrise auseinander zu setzen, die an den Grundfesten traditioneller Normen und Gewohnheiten rüttelt, und deren Folgen für die Gesellschaft kaum abzuschätzen sind. Doch trotz der Verunsicherungen und Ängste, dürfen wir es nicht verabsäumen, den Blick zu heben, um die Zeichen der Zeit zu verstehen.

Es hat den Anschein, als wäre jetzt die Stunde des Krisenmanagements gekommen. Doch das wäre zu klein gedacht. Vielmehr ist es die Stunde der Führung, der klaren Visionen, des umfassenden Unternehmertums, der mutigen Pioniere. Es braucht den Blick für das Ganze, wenn wir gemeinsam diese Krise bewältigen wollen, denn wir haben es nicht mit einer Viruskrise zu tun, sondern mit einer Bewusstseinskrise. Unsere vornehmliche Angst besteht nicht darin, dass wir einer äußeren Bedrohung ausgesetzt sind, die unser System überfordern könnte, sondern in der Ahnung, dass wir danach nicht mehr zur altgewohnten Normalität vergangener Tage zurückkehren werden können. Wie Nelson Mandela in seiner Antrittsrede betonte, liegt unsere verborgenste Angst nicht darin, dass wir unzulänglich sind.

Unsere verborgenste Angst ist, dass wir über alle Maßen machtvoll sind, hervorragend, großartig, talentiert. Das Kleinspielen dient der Welt nicht. Im Schrumpfen liegt nichts Erleuchtetes, wenn um uns herum andere Menschen sich unsicher fühlen.

Derzeit machen wir hautnah die Erfahrung dessen, was in der Chaos-Theorie, als Sinnbild allumfassender Verbundenheit, als „Schmetterlingseffekt“ bezeichnet wird: der Flügelschlag eines Schmetterlings, der tausende Kilometer entfernt Orkane auslöst.

Ein winziges Virus fegt, unbeirrt von Ländergrenzen und Kontinenten, über unseren Erdball und legt in kürzester Zeit all unsere ausgefeilten Systeme lahm. Glauben wir allen Ernstes, dass wir diese globale Krise mit regionalem oder nationalem Denken bewältigen können? Zeigt uns diese Erfahrung nicht vielmehr, dass wir in Wirklichkeit eine organische Einheit sind, eine einzige Menschheit, und diese Erde eine gemeinsame Heimat? Wird dadurch nicht gerade unsere Schwäche im globalen Zusammenwirken sichtbar? Sollten wir nicht erkennen, dass es keine Überwindung dieser Krise für ein Land allein auf Kosten anderer geben kann? Dass hier die Muster des Verdrängungswettbewerbs und der parasitären Egozentrik ausgehebelt sind? Wird es nicht deutlich, dass wir an einem Punkt angekommen sind, einem „Point-of-no-return“, da der Weg in die Zukunft über eine Brücke führt, den wir nur gemeinsam gehen können?

Als Mitte März in Italien ein Flugzeug aus China landete mit Hilfsgütern und erfahrenen Ärzten zur Unterstützung der leidgeprüften Bevölkerung, trugen diese ein Banner mit sich, worauf als Einladung zu weltweiter Solidarisierung ein Zitat aus den Bahá’í-Schriften stand: „Wir sind Wogen eines Meeres, Blätter eines Baumes, Blumen eines Gartens.“ Die Probleme der Welt sind systemischer Natur. Mit Stückwerksdenken und fragmentiertem Handeln sind sie nicht zu lösen.

Vor allem ist es wichtig, Zuversicht aus der Erkenntnis zu gewinnen, dass in jeder Krise zugleich auch ihre Lösung verborgen liegt. Doch um diese Lektion zu entschlüsseln, müssen wir uns verabschieden von Passivität und Opferhaltung. Einstein sagte einmal, dass Probleme nicht mit demselben Denkansatz zu lösen sind, wodurch sie entstanden sind. Es benötige einen Ebenenwechsel. Derzeit sind wir Zeugen von Bemühungen, mit demselben Mindset der Atomisierung der Welt und der Fragmentierung organischer Ganzheiten eine Krise in den Griff zu bekommen, die die ganze Menschheit umfasst.

Doch wenn wir die Perspektive ändern, und den Blick für das Ganze schärfen, erkennen wir in der jetzigen Situation nicht Niedergang und Bedrohung, sondern Chancen und Einladungen zu höheren Ebenen der Wahrnehmung. Was uns Sorge bereiten sollte, wäre ein Szenario, dass diese Situation vorbeigehen könnte, ohne dass wir die wesentliche Lektion daraus gelernt hätten. Denn diese Krise ist kein Einzelevent. Der Keim dafür lag bereits in der untauglichen Handhabung der letzten globalen Krise, als man an Symptomen hängenblieb und die eigentlichen Ursachen unbehandelt ließ. Es ist ein systemisches Kernprinzip, das für Einzelne genauso gilt, wie für Gemeinschaften und Organisationen: Lektionen des Lebens kehren in zyklischer Abfolge und mit zunehmender Intensität immer wieder, bis sie angenommen und gelernt wurden. Erst dann ist der Weg frei für echten Fortschritt. Ein Verdrängen oder Wegschauen verschlimmert die Lage nur.

Vielleicht eröffnet sich uns damit die inhärente Bedeutung dieser Krise als Chance. Eine Chance, die in so vielen Menschen das Gute hervorbringt: eine Welle der Solidarität, von Opferbereitschaft, der Nachbarschaftshilfe, von gegenseitiger Wertschätzung und Lebensfreude! Eine Chance, die uns aufzeigt, wo unsere Entwicklungspotentiale liegen und wo wir reifen müssen! Eine Chance, die uns drängt, brachliegende, unbeachtete Potentiale freizusetzen und zum Allgemeinwohl zu nutzen! Eine Chance, die verzerrte Werte zurechtrückt und aufzeigt, dass Menschen nicht dazu da sind, der Wirtschaft und einem einseitigen Finanzsystem zu dienen, sondern dass vielmehr diese im Dienst am Gemeinwohl dafür Sorge zu tragen haben, dass Innovation, allgemeines Wohlergehen und echtes Unternehmertum Raum bekommen! Zeigt diese Krise nicht bereits die Umkehrung des egozentrischen Musters auf, dass letztlich nicht der Einzelne auf Kosten der Gemeinschaft und nicht das Kollektiv auf Kosten des Einzelnen erfolgreich sein können, sondern, dass der Einzelne auf sich schauen sollte zum Wohl anderer, und die Gemeinschaft dem Einzelnen Schutz und Zugehörigkeit zu gewähren hat?

So wir diese Lernchance wahrnehmen, werden wir gestärkt aus dieser Krise hervorgehen, uns neu definieren, Mission, Sinn und Werte am Wohl und der Unteilbarkeit der Menschheit ausrichten und als Frucht dessen gestärkte Partnerschaften, gesündere Familien, erfolgreichere Unternehmen und geeinte Gemeinschaften ernten. Die Stunde ist kostbar!

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